quarta-feira, 6 de julho de 2011

Ein Interview mit Peter Bürger über seine „Theorie der Avantgarde“*

Frage: Ihre „Theorie der Avantgarde“ ist in Deutschland 1974 erschienen. Sie hat damals eine heftige Diskussion ausgelöst, die sich in einem Diskussionsband niedergeschlagen hat. Auch die US-amerikanische Übersetzung, die zehn Jahre später erschien, ist besonders in den Kunstwissenschaften viel diskutiert worden. Man kann sogar sagen: die Diskussion hält bis heute an: Im Katalog der “Documenta X”

nimmt der amerikanische Kunstkritiker Benjamin Buchloh

wiederholt auf Ihre Thesen Bezug; Hal Foster widmet in “The Return of the Real” (1996) der “Theorie der Avantgarde” ein ganzes Kapitel,

und Heinrich Klotz geht in seinem Buch “Kunst im 20. Jahrhundert” (1994) ebenfalls von den Thesen Ihres Buches aus.

Könnten Sie zunächst den historischen Kontext, in dem das Buch entstanden ist, kurz skizzieren? Das ist für uns Brasilianer deshalb wichtig, weil Ihr Buch bei uns ja auf einen ganz andern gesellschaftlichen und kulturellen Kontext trifft.

Peter Bürger: Die Hoffnungen auf eine radikale gesellschaftliche Veränderung in Europa, die die französischen Mai-Ereignisse und die Studentenbewegung bei der jungen Generation geweckt hatten, waren in den frühen 70er Jahren, als ich das Buch zu konzipieren begann,bereits verflogen. Die Studentenbewegung hatte sich in einander bekämpfende, dogmatisch fixierte marxistische Gruppen aufgespalten, die für die Entwicklung einer kritischen Wissenschaft ebenso hinderlich waren wie die Reste eines bildungsbürgerlichen Kulturbegriffs, der die Überzeitlichkeit ästhetischer Werte propagierte.

Aus dieser Konstellation ergab sich folgende Aufgabe: Gegen die idealistische Vorstellung eines überzeitlichen Wesens der Kunst war auf der Historizität nicht nur der Kunstwerke, sondern auch des Kunstbegriffs zu insistieren. Gegen eine vulgärmaterialistische Kunstsoziologie, die sich darauf beschränkte, Kunstwerke aus der jeweiligen gesellschafllichen Basis herzuleiten,war zum einen auf die methodologischen Einsichten des Marx der “Grundrisse” zurückzugreifen und zum andern auf der immanenten Entwicklungslogik des gesellschaftlichen Teilsystems Kunst zu insistieren.

Frage: Haben Sie eine Erklärung dafür, warum gerade dieses Ihrer Bücher eine so große Verbreitung gefunden und in die meisten Weltsprachen übersetzt worden ist? Sie erzählten mir gerade, daß inzwischen auch eine chinesische Übersetzung vorbereitet wird. Panorama do campus da Universidade de Bremen

Peter Bürger: Offenbar vermögen auch theoretische Texte in veränderten Kontexten jeweils neue Bedeutungspotentiale zu entfalten. Im Falle der “Theorie der Avantgarde” könnte das möglicherweise daher rühren, daß sie das Spannungsverhältnis zwischen zwei Traditionen der ästhetischen Moderne austrägt, die sich zumindest im Felde der Theorie eher gegeneinander definiert haben: ich meine den avantgardistischen Impuls der Aufhebung der Kunstautonomie, den Benjamin

in seinen Kunstwerkthesen aufgenommen hat, und die auf der Autonomieästhetik basierende werkzentrierte Moderne,

als deren bedeutendster Theoretiker Adorno gelten kann.

Während Benjamin in seinem Kunstwerk-Aufsatz (wenngleich gebrochen) das Projekt einer nachauratischen Kunst verfolgt,

worin Brechtsche und surrealistische Motive sich auf eigenartige Weise verbinden, läßt Adorno, dessen frühe Kritik am Phantasmagorischen der Musik Wagners durchaus Parallelen zu dem Projekt Benjamins aufwies, nach der Rückkehr aus dem amerikanischen Exil keinen Zweifel daran, daß der Autonomiestatus für ihn die Bedingung der Möglichkeit von Kunst in der spätbürgerlichen Gesellschaff ist. Die Kategorien idealistischer Ästhetik, die Benjamin mit einem Gewaltstreich hatte außer Kraft setzen wollen, sind damit wieder eingeführt; wobei der avantgardistische Aufhebungsimpuls innerästhetisch in der Kategorie des Bruchs überdauert.

Trotz zahlreicher gemeinsamer Denkmotive läßt kaum ein unversöhnlicherer Gegensatz sich denken als derjenige, der Benjamins Kunstwerk-Thesen von Adornos “Ästhetischer Theorie” trennt.

Die “Theorie der Avantgarde” nun, so scheint mir, versucht, diesen Gegensatz zum Gegenstand einer theoretischen Konstruktion zu machen. Sie reflektiert das avantgardistische Projekt einer Überführung der Kunst in die Lebenspraxis, nicht indem sie daraus ein ästhetisches Programm ableitet (wie Benjamin es getan hatte), sondern indem sie das Scheitern des Projekts zu begreifen sucht.

Frage: Gerade Ihrer These vom Scheitern der historischen Avantgardebewegungen ist von verschiedenen Seiten immer wieder heftig widersprochen worden. Wie verstehen Sie dieses Scheitern?

Peter Bürger: Alles kommt darauf an, einen komplexen, in sich widerspruchsvollen Begriff des Scheiterns zu denken, der die Erfahrungen, die im Prozeß des Scheiterns gemacht werden, ebenso aufbewahrt wie das Bewußtsein, daß das Projekt einer in den Alltag eingegangenen Ästhetik

als imaginäre Zielprojektion auch dann noch seinen Sinn behält, wenn die universale Ästhetisierung des Alltags es längst entwertet zu haben scheint.

Im Scheitern des Angriffs der historischen Avantgardebewegungen auf die Institution Kunst verschränken sich drei Momente: 1. das historisch notwendige Projekt einer Aufhebung der Kunst in die Lebenspraxis, das sich gleichermaßen aus der Entwicklungslogik der Kunst (Ästhetizismus-Problem) wie der Entwicklungsdynamik der bürgerlichen Gesellschaft (Krise dieser Gesellschaft im ersten Weltkrieg) ergibt; 2, die Unmöglichkeit, dieses Projekt unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen zu verwirklichen; 3. schließlich die Resistenzkraft der Institution, deren Aufhebung historisch an der Tagesordnung zu sein schien. Das Scheitern des avantgardistischen Projekts bedeutet jedoch keine Rückkehr zu den Ausgangsbedingungen; vielmehr hat es eine Veränderung der Institution Kunst zur Folge, die sich vielleicht auf die Formel bringen läßt: die Institution Kunst besteht fort, aber als erschütterte (der Irrealist bei Adorno hält das fest). Die Kategorien der idealistischen Ästhetik sind nicht einfach wieder zur Geltung gebracht, sondern sie dauern fort als entwertete.

Frage: In Brasilien ist bislang von Ihnen vor allem Ihr Aufsatz “Das Altem der Moderne” bekannt.

Sie setzen sich dort mit Adornos Materialästhetik auseinander, die davon ausgeht, daß es zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt nur ein avanciertes künstlerisches Material gibt, das auf der Höhe der Zeit ist. Sie zeigen, in welche Schwierigkeiten Adorno damit bei der Erörterung des Neoklassizismus von Stravinsky kommt, den er in den “Minima Moralia” als ästhetisch und politisch reaktionär brandmarkt, während er ihn in der “Philosophie der neuen Musik”

als Ausdruck eines "souveränen Spiels des Artisten mit vorvergangenen Formen" begreift und in die Nähe des Surrealismus rückt. Muß man nicht zu dem Ergebnis kommen, daß die Montage, d. h. das Prinzip avantgardistischer Kunst, in der Ästhetik Adornos exterritorial bleibt?

Und steckt in seiner Haltung nicht die Angst vor dem Regressionspotential, das er in dem Montageprinzip vermutet?

Peter Bürger: Man wird hier differenzieren müssen. In der "Ästhetischen Theorie” Adornos gibt es eine vorzügliche Analyse der Montage, der mein Kapitel über Montage in der “Theorie der Avantgarde” viel verdankt. Aber Sie haben recht, Adorno ist die Montage zutiefst suspekt; und zwar deshalb, weil damit das Prinzip der Durchformung aller Teile des Kunstwerks aufgegeben wird. Krude Realität dringt so ins Werk ein. Freilich, nicht nur die Montage, auch das avantgardistische Projekt der Überführung der Kunst in die Lebenspraxis ist Adorno erdächtig.

Das Verdikt, "die Zeit der Kunst sei vorüber, es käme darauf an, ihren Wahrheitsgehalt, der mit dem gesellschaftlichen umstandlos identifiziert wird, zu verwirklichen: das Verdikt ist totalitär", heißt es in der “Ästhetischen Theorie”.

Frage: Im Gegensatz zu Adorno haben Sie bereits in der “Theorie der Avantgarde” von der freien Verfügung über verschiedene Materialstände gesprochen. Ist damit nicht dem Eklektizismus Tür und Tor geöffnet?

Peter Bürger: Ich habe kein “anything goes” verkündet, im Gegenteil.

Ich habe versucht, die faktische Situation zu beschreiben, in der der Künstler nach dem Ende der historischen Avantgardebewegungen steht. Es gibt verschiedene Materialstände, unter denen der Künstler wählen kann. Diese Wahlmöglichkeit erleichtert die künstlerische Produktion jedoch keineswegs; sie macht es vielmehr beinahe unmöglich, ein notwendiges Kunstwerk zu schaffen. Ein Autor, der diese Situation in seinem Werk reflektiert, ist der Maler Gerhard Richter,

der abwechselnd photorealistische und abstrakte Bilder malt. Damit wird die problematische Situation des Künstlers in der Gegenwart erkennbar, freilich noch kein notwendiges Werk geschaffen. Dies ist Richter in dem Augenblick gelungen, in dem er seine photorealistische Maltechnik auf die Toten von Stammheim angewendet hat (im Oktober 1977 sind die Mitglieder einer sich revolutionär verstehenden Terrorgruppe tot im Gefängnis von Stuttgart-Stammhein gefunden worden).

Richter malt diesen dunkelsten Augenblick in der Geschichte der Bundesrepublik eher mit Verwischtechnik, die hier mit einem Mal semantisch bedeutsam wird. Die Form schlägt in Gehalt um.

Frage: Am Schluß Ihres Aufsatzes erwähnen Sie die “Ästhetik des Widerstands” von Peter Weiss als eines der "relevanten Phänomene gegenwärtiger Kunstproduktion", dabei weisen Sie vor allem auf die Verwendung realistischer Erzähltechniken hin. Nun hat ja Peter Weiss in seinem Roman eine Ästhetik formuliert, die auf die "Aneignung der Expertenkulturen aus dem Blickwinkel der Lebenswelt" (Habermas) ausgeht. Sehen Sie darin eine mögliche Perspektive für eine gegenwärtige Ästhetik?

Peter Bürger: Peter Weiss hat keine Abhandlung, sondern einen Roman geschrieben. Er erzählt, wie die im Widerstand gegen den Faschismus arbeitenden proletarischen Jugendlichen sich die hohe Kultur aneignen. Sie tun dies unter anderm dadurch, daß sie Werke, wie Pergamon-Altar, Kafkas “Schloß”

oder Picassos Guernica auch auf ihre eigene Lebenssituation anwenden. Die Protagonisten des Romans schöpfen aus den Kunstwerken die Kraft zum Widerstand gegen einen übermächtigen Feind. Darin kann man durchaus einen Nachklang des avantgardistischen Programms der Vereinigung von Kunst und Leben sehen. Auch die Werke der hohen Kunst, sagt uns Peter Weiss, sind nicht in der Institution Kunst eingeschlossen wie in einem verwunschenen Schloß; sie lassen sich daraus befreien, wenn man den Mut hat, sie auf sein eigenes Leben zu beziehen. Adorno hätte sicherlich die fehlende Vermittlung eingeklagt. Ich frage mich, ob Weiss mit seiner utopischen Vorstellung von Rezeption nicht eine Idealisierung vorgenommen hat, die die Tatsache verdeckt, daß die Ausgeschlossenen tatsächlich und unwiderruflich ausgeschlossen sind.

Frage: Ich möchte nun auch einige, die den Zusammenhang der europäischen Avantgarden mit unserer Kultur betreffen. Der brasilianische Kritiker Antonio Candido

hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Kühnheiten eines Picasso, eines Brancusi, Max Jacob, Tristan Tzara im Grunde in engerem Zusammenhang mit den Überresten primitiver Kulturen in unserm Alltag stehen als mit den Traditionen Europas. Was dort einen Bruch mit der Tradition bedeutete, konnte hier zum Anstoß werden, um sich auf Eigenes zu besinnen. Der brasilianische modernismo macht den Primitivismus zur Quelle der Schönheit und den Mulatten und den Schwarzen zum Gegenstand der Literatur. Provokatorischer Ausdruck dieser radikalen Umwertung ist Oswald de Andrades

“Anthropophagisches Manifest” von 1928.

- Sie kennen den Text. Wie würden Sie diese fundamentalistische Metaphermodernistischer Orthodoxie bewerten?

Peter Bürger: Zumindest bei uns hat das Adjektiv fundamentalistisch eine pejorative Konnotation. Ich würde es daher nicht auf Andrades Text anwenden. Ähnlich verhält es sich mit dem Terminus Orthodoxie. Das “Anthropophagische Manifest” läßt sich den großen Manifesten der europäischen Avantgardebewegungen an die Seite stellen. Wie in den dadaistischen Manifesten geht es auch in dem Text von Oswald de Andrade um den Ausdruck einer radikalen Revolte, hier gegen die Kolonisierung des Landes, die ja mit der Unabhängigkeit nicht beendet war, sondern in der intellektuellen Kolonisierung eine Fortsetzung gefunden hat. "Tupi or not Tupi, that is the question". Dagegen setzt Andrade die Reste einer karibischen Kultur: "ein teilnehmendes Bewußtsein, eine religiöse Rhythmik" und "die prälogische Mentalität" sowie den Synkretismus aus Katholizismus und einheimischen Kulturen: "Wir ließen Christus in Bahia zur Welt kommen". Andererseits heißt es auch:"Gegen den Kerzenstock-Indio. Den Mariensohn-Indio". Ob es sich dabei um provokatorische Selbstwidersprüche handelt wie im Dadaismus oder ob das, was mir als Widerspruch erscheint, anders zu interpretieren ist, um das zu entscheiden, dazu fehlen mir die Kontextkenntnisse. Übrigens, Alfred Lorenzer, ein der Frankfurter Schule nahestehender Psychoanalytiker, hat in seiner Kritik des Zweiten Vatikanischen Konzils, “Das Konzil der Buchhalter” (1981), die Rituale und gegenständliche Symbolik der lateinamerikanischen Kirche als "begrenzten Freiraum für die Unterdrückten" beschrieben, um ihre Lebensentwürfe, und Lebensformen zum Ausdruck zu bringen. Mich hat diese Deutung, die zugleich Kritik eines rationalistisch verengten Aufklärungsbegriffs ist, überzeugt. Aber um auf Ihre Frage nach der Einschätzung des “Anthropophagischen Manifests” zurückzukommen, vielleicht kann man sagen, daß der Eingeborene darin die Stelle einnimmt,die im ersten Manifest des Surrealismus dem Kind eingeräumt wird. In beiden Texten wurde gegen westliche Modernisierung und Rationalisierung auf einen Ursprung verwiesen, zu dem es kein Zurück gibt. Die Stärke dieser Texte bestünde dann darin, daß sie die ihnen zugrunde liegende Aporie eingestehen.

Frage: Wenn man die Prinzipien der surrealistischen Collage aus den europäischen Zentren in die Peripherie überträgt, macht man eine seltsame Beobachtung: das Nebeneinander von Nicht-Zusammengehörendem, das im europäischen Kontext als Schock gewirkt hat, verliert dort seinen Schockcharakter, und zwar aus zwei Gründen: 1, weil das Nicht-Zusammengehören die Grunderfahrung des Intellektuellen der Peripherie ist. Er geht dauernd mit Theorien und Ideen um, die nicht auf sein Land passen; 2, weil die Landschaft seines Landes sich als eine surrealistische Collage erweist, in der Altes und Neues aufeinanderstoßen. Die Folge davon ist, daß die surrealistischen Prinzipien der Darstellung gleichsam realistisch werden. Können Sie das nachvollziehen?

Peter Bürger: Das ja, aber was daraus folgt, vermag ich noch nicht abzusehen. Nur soviel kann ich im Augenblick dazu sagen: Die surrealistische Ästhetik (wenn ich dieses problematische Kürzel verwenden darf, denn streng genommen, gibt es so etwas gar nicht) hat sich in Frontstellung zum Realismus entwickelt. Breton polemisiert im ersten “Manifest des Surrealismus” gegen den naturalistischen Roman, weil dieser in seinen Beschreibungen nur Klischees wiedergebe (übrigens ein sehr ungerechter Vorwurf wenn man an die surrealen Momente in den Beschreibungen Zolas denkt). Implizit setzt Breton dagegen einen emphatischen Begriff von Erfahrung (den Gegensatz von “moments nuls de ma vie”). Wenn das, was Sie andeuteten, zutrifft, würde dieser Gegensatz in den lateinamerikanischen Kulturen in sich zusammenfallen. Die surrealistischen Verfahren wären zugleich realistische. Ich denke, das läßt sich auch in der lateinamerikanischen Literatur beobachten. Aber das wissen Sie doch viel besser als ich.

Frage: Sie haben vorhin von der intellektuellen Kolonisierung Lateinamerikas gesprochen. In der Tat, seit dem 19. Jahrhundert bestimmen die aus Europa übernommenen Ideen das kulturelle Leben des Landes. Die daher rührende Inauthentizität ist geradezu ein Gemeinplatz der brasilianischen Kulturkritik geworden. Einerseits sieht der brasilianische Intellektuelle sich mit Theorien konfrontiert, die nicht in seinem Land entstanden und auf dessen Probleme auch nicht anwendbar sind, andererseits ist die von den Nationalisten rechter wie linker Provenienz propagierte Abkehr von der internationalen Kultur nicht weniger problematisch. Der 1938 in Wien geborene Kritiker Roberto Schwarz

hat in seinen kulturkritischen Essays, “Misplaced Ideas”, nachdrücklich auf dieses Dilemma hingewiesen. Wie beurteilen Sie die Thesen von Roberto Schwarz?

Peter Bürger: Um einen Essay wie “National by Elimination” beurteilen zu können, müßte ich Kenntnisse über die sozialen, politischen und kulturellen Gegebenheiten Brasiliens haben, die mir fehlen. Ich kann mich also allenfalls zu der Weise äußern, wie Roberto Schwarz die kulturellen Probleme seines Landes in den Blick nimmt. Gefallen hat mir an dem Aufsatz vor allem, daß er eine Denkbewegung zeigt. Roberto Schwarz geht die verschiedenen Vorschläge durch, die man zur Überwindung des allgemein als künstlich, unauthentisch und in der Nachahmung verharrenden kulturellen Lebens gemacht hat, prüft die vorgebrachte Argumentation und weist deren Defizite nach. Über den Purismus der linken wie der rechten Nationalisten haben Sie bereits gesprochen; durch Eliminierung alles Nicht-autochthonen soll eine nationale Kultur erreicht werden. "The residue would be the essence of Brazil". Aber als nicht weniger problematisch erweist sich der postmoderne Denkansatz, der in der Nachfolge von Derrida den Gegensatz von Zentrum und Peripherie, Original und Kopie dekonstruiert und damit das Problem meint gelöst zu haben. Dadurch wird zwar das Selbstbewußtsein der Intellektuellen der unterentwickelten Länder gestärkt, die sich jetzt auf derselben Stufe stehend erfahren können wie ihre Kollegen in den Metropolen; Was bislang als Kopie galt, ist jetzt als eigene schöpferische Leistung anerkannt. Aber die zugrunde liegenden Ursachen der Unterentwicklung sind durch eine dekonstruktivistische Sprachregelung natürlich nicht beseitigt. Roberto Schwarz sieht sie in der Geschichte Brasiliens, der Schaffung eines Nationalstaats auf der Grundlage von Sklavenarbeit. Unter diesen Bedingungen konnte keine nationale Kultur entstehen, die die Kultur der ganzen Nation wäre: "the painfulness of an imitative civilization is produced not by imitation (...) but by the social structure of the country". - Nun, auch in Deutschland gibt es keine nationale Kultur, die die Kultur aller wäre. Die hohe Kultur war seit ihrem Entstehen in der klassisch-romantischen Epoche eine Kultur des Bürgertums. Die Teilhabe an ihr war an Bildungsvoraussetzungen geknüpft, die eben nur die Angehörigen des Bürgertums erwerben konnten. Den Ausschluß der Arbeitenden aus der hohen Kultur haben Horkheimer und Adorno in der “Dialektik der Aufklärung” mit ihrer Deutung der Sirenenepisode der “Odyssee” in aller Schärfe zum Ausdruck gebracht. Encenação de "Die Heimkehr des Odysseus", de Claudio Monteverdi na Ópera Wuppertal, 2009

Nur Odysseus hört, an den Mast gefesselt, den Gesang der Sirenen, während die Gefährten mit verstopften Ohren aus Leibeskräften rudern müssen. Heute braucht man den Arbeitenden nicht mehr die Ohren mit Wachs zu verstopfen, spiegelt doch die glitzernde Warenwelt ihnen eine Erfüllung vor, die keine Sehnsucht mehr entstehen läßt.

In der durchkapitalisierten Welt wird das, was einmal Kultur war, zu einem ökonomischen Sektor wie andere auch. Das waren gute Zeiten, als die bürgerliche Gesellschaft zu ihrer Legitimation noch der Kultur bedurfte.

*Peter Bürger. Ein Interview mit Peter Bürger über seine „Theorie der Avantgarde“.Manuskript. Erschienen auf Portugiesisch in der brasilianischen Zeitung „O Estado de Sao Paulo“, São Paulo am 10.10.1999, S.7.

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